134. Tag
Sonntag, 19.9.04: Rifugio Sella (2640m) – Monviso (3841m) – Rifugio Sella (2640m)
Heute ist ein besonderer, ein historischer Tag, ich werde den Monviso (3841m), den höchsten Punkt meiner Expedition, erklimmen. Der Monviso ist nicht irgendein Berg, schon Vergil erwähnte ihn in der Aeneis, ebenso Dante in seiner Göttlichen Komödie. Um seine Erstbesteigung entbrannte ein regelrechter Wettkampf, jeder, der etwas auf sich hielt, nahm ihn in Angriff. Die meisten Versuche scheiterten am Wetter, an den Nebelschwaden, die sich oft schon vormittags an den Re di Pietra, den König aus Stein, schmiegen und ihn für den Rest des Tages in Beschlag nehmen. Am 30. August 1861 eroberte die erste Seilschaft den Gipfel, sie bestand aus zwei Briten - William Mathews und Frederik Jacomb - und ihren französischen Führern, den Brüdern Jean-Baptiste und Michel Croz - letzterer kam vier Jahre später bei der tragisch endenden Matterhorn-Erstbesteigung ums Leben. Die britisch-französische Koproduktion ließ die in ihrer nationalen Ehre tief gekränkte italienische Presse Kübel voller Spott und Häme über die einheimischen Bergsteiger ausschütten. Der nonchalante Mathews bezeichnete den Aufstieg über bröseliges Gestein als „not very difficult“ und spottete über all jene, die den Monviso für unbezwingbar gehalten hatten.
Als ich mich um Viertel nach vier würdevoll, der Bedeutung des heutigen Tages gewahr, aus den Federn erhebe, bin ich nicht der Einzige, der dies tut, an die 50 weitere Anwärter wagen den Aufstieg. Eine beeindruckende Stirnlampenkarawane setzt sich in Bewegung, ich reihe mich ins hintere Drittel ein und fliege fast dahin – so federleicht fühlt sich der gähnend leere Rucksack an. Die Morgendämmerung naht, als wir über kettenversicherte, ausgesetzte Passagen den Passo delle Sagnette (2991m) erreichen. Dahinter steigen wir 50 Meter in einen Kessel hinab und stolzieren zum Fuße der Monviso-Südwand, die weit weniger unnahbar und abweisend als ihr Pendant auf der Nordseite wirkt. Dicke weiße, auf einen riesigen Felsklotz gepinselte Lettern warnen davor, das Unternehmen auf die leichte Schulter zu nehmen: „La montagna e severa. Sigurezza = Vita“ („Das Gebirge ist ernst. Sicherheit = Leben“).
Mittlerweile habe ich zahlreiche Stirnlampenträger – viele von ihnen atmen schwer - überholt und befinde mich im ersten Drittel der Aspiranten. Am Bivacco Lino Andreotti (3225m), einer gelbgrün leuchtenden Biwakschachtel, ist längst hellichter Tag, die Verhältnisse sind exzellent. Sieht man von einem kurzen, unproblematischen Firnfeld direkt hinter dem Bivacco ab, behindern weder Eis noch Schnee den Aufstieg. Für einen Berg, der alle österreichischen überragt und nahe an die 4.000 Meter heran reicht, ist das absolut außergewöhnlich! Das Gelände wird steiler, an den Kletterstellen staut sich die Karawane, ein Helm stünde mir gut zu Gesicht: Das erste Steinchen verfehlt mich nur knapp, fünf Minuten später gehe ich erneut in Deckung, als ein ungeschickter, trotz Seilsicherung vor Angst schlotternder Kletterer eine Steinlawine auslöst. „Verflucht, es genügt! Passt gefälligst auf da oben,“ würde ich liebend gerne himmelwärts brüllen, meinem Munde entweicht lediglich ein lautes „Attenzione“. Als ich nach vier Stunden ganz oben stehe, ziehen die ersten Wolken auf. Wie es sich gehört, zieren Kreuz und Marienstatue den Gipfel, drumherum wimmelt es von Bergsteigern.
Der britische Schriftsteller, Architekt und Bergliebhaber John Ruskin (1819 - 1900) fällte nach der Matterhorn-Tragödie ein vernichtendes Urteil über unsere Zunft:
„Der wirkliche Grund für die Sträflichkeit der alpinen Kletterei ist, dass sie mit weniger Berechtigung mehr Eitelkeit hervorruft als jedes andere sportliche Geschick. ... Sie [die Bergsteiger] verachten die Natur, das heißt all die tiefen und heiligen Gefühle der natürlichen Landschaft. Sie haben aus den Kathedralen der Erde Rennbahnen gemacht. Die Alpen, die Ihre eigenen Dichter einst so ehrfurchtsvoll liebten, sind Ihnen nur eingeseifte Stangen in einem Bärengarten, die Sie erklettern und die Sie mit entzücktem Kreischen hinunterrutschen.“
Mister Ruskin besaß prophetische Gaben, mit der „Rennbahn“ traf er zwar des Pudels Kern, aber was ist verwerflich daran, wenn an einem wunderschönen Tag wie diesem die „Massen“ den Berg hinauf strömen? Das Panorama ist nun mal großartig, der Blick reicht bis in die dreieinhalb Tausend Meter tiefer liegende Poebene. Keine andere Erhebung ringsum vermag dem Monviso an Höhe und Anmut auch nur annähernd das Wasser zu reichen.
Bald bin ich des Gedränges überdrüssig, steige auf demselben Weg wieder hinab, halte am Bivacco Siesta und schlendere zurück zur Hütte, wo ich die nach mir eintrudelnden Gipfelsieger studiere. Lag Ruskin richtig, als er sie wenig schmeichelhaft als „glutrot vor eitlem Stolz und krampfhaft sich verschluckend an immer neuen Ausbrüchen der Selbstzufriedenheit " denunzierte? Die meisten schlurfen müde und ausgelaugt dahin, und während ich die Nacht hier oben verbringe, schleppt sich der Großteil hinab ins Tal, um morgen früh aufs Neue den Wonnen der Erwerbsarbeit zu frönen.
Ein kleiner Junge wendet sich fragend an seine Mutter, ob dieser rauschebärtige Typ mit den langen Haaren und der zerlumpten Kleidung – er meint mich – rein zufällig Jesus sei, was sie lachend verneint. Allmählich verschwinden die Wochenend-Bergsteiger, und Ruhe kehrt ein. Wo bleibt Philip? Er kommt spät, doch er kommt – nach turbulenter Anreise. Irgendwann ging auch Trampen nicht mehr, und er gönnte sich ein sündhaft teures Taxi. Für den Preis hätte er sich einen Helikopter mieten können! Gut, dass er da ist.
Erkenntnis des Tages: Ich bin Jesus.
Exakte Routenführung: Rifugio Sella (2640m) – Passo delle Sagnette (2991m) – Bivacco Andreotti (3225m) - Monviso (3841m) – Bivacco Andreotti (3225m) - Passo delle Sagnette (2991m) - Rifugio Sella (2640m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 1300m; Abstieg: 1300m
Distanz: 9 km
Reale Gehzeit: 8 Std
Almoehi - 28. Mär, 12:29