Rocciamelone
125. Tag: Freitag, 10.9.04: Rifugio Tazzetti (2642m) - Il Trucco (1706m)
Heute werde ich als Atheist zum höchsten Wallfahrtsort Europas pilgern – er liegt auf schwindelerregenden 3.538 Metern. In eine undurchdringliche Suppe gehüllt kämpfe ich mich sogleich steil hoch, die Schwaden lichten sich erst, als ich auf einem Nebengrat dem Col di Resta (3183m) entgegen gleite und Zeuge eines über alle Maßen eindrucksvollen Sonnenaufgangs werde. Das anfänglich dunkelrote Glühen weicht alsbald helleren Tönen, die ersten, noch schüchternen Strahlen erheben sich über die Wolkenbank, und zu guter Letzt wälzt sich ein gelber, blendender Feuerball den Horizont empor. Schon stehe ich mit einem Bein auf der rauhen Oberfläche des Rocciamelone-Gletschers. Bei dem Gedanken, schon wieder alleine über ewiges Eis zu spazieren, war mir doch etwas bange zumute gewesen, doch der erste Blick auf den ausgeaperten, flachen und gutmütigen Riesen vertreibt das mulmige Gefühl sogleich. Noch nie habe ich einen harmloseren Gletscher überquert, hier oben hat er keine Spalten, erst weiter unten, in sicherer Entfernung, dort, wo er sich neigt, zerfurchen sie ihn. Respekt und gute Sitte gebieten es dennoch, Steigeisen anzuschnallen – es ginge auch ohne.
In 3.300 Meter Höhe erreiche ich den Westgrat des Rocciamelone (3538m), eines brösligen Schutt- und Gesteinskegels, der für einen Berg seiner Höhe und seines Renommées spielend leicht zu erstürmen ist, die letzten Schneefelder sind längst dahin geschmolzen.
Schon am Ersten September 1358 wurde er erstmals erklommen, der Kreuzritter Bonifacio Rotari d’Asti hatte in türkischer Gefangenschaft gelobt, dass er, sollte er jemals lebendig in seine Heimat zurückkehren, den ersten Berg, den er erspähe, mit einem Marientryptichon krönen werde. Das sieben Kilo schwere Kupfergebilde entwickelte sich bald zu einem Anziehungspunkt für Pilger. In seinen Voyages dans les Alpes berichtete Horace Bénédict de Saussure 1799, dass regelmäßig Wallfahrer abgestürzt seien, so dass man das Marienbild in die Kathedrale von Susa (501m) verlegt habe. Die Pilger holten es stets dort ab, schleppten es 2.300 Meter bis zur Kapelle am Rifugio Ca d’Asti (2854m) hinauf, huldigten ihm und trugen es anschließend wieder hinunter.
Verlebte ich bis knapp unterhalb des Gipfels einen Vormittag in wohltuender Einsamkeit, so ändert sich dies rapide, als ich meinen Fuß auf den höchsten Punkt setze. Mich erwartet ein buntes Völkchen an Gipfelstürmern, ich bin nicht einmal der einzige Berliner, der sich vor der überlebensgroßen Madonnenfigur in Pose wirft.
Die 800 Kilogramm schwere Skulptur wurde, in Einzelteile zerlegt, 1899 von italienischen Gebirgsjägern im Rucksack herauf befördert, mildtätige Gaben von 130.000 Kindern aus ganz Italien machten es möglich. Neben der Figur klebt das Rifugio Santa Maria am Berg, ein Gotteshaus mit Schutzraum für Pilger und Bergsteiger. Mehr als 3.000 Meter unter uns liegt das Susa-Tal, eine atemberaubende Perspektive, als würde man in einem bequemen, gepolsterten Flugzeugsessel sitzen und von ganz weit oben hinab schauen. Kein Wunder, dass der Rocciamelone im Mittelalter als höchster Berg der Alpen galt!
Auf dem einfachen, mit wenigen überflüssigen Seilen abgesicherten Normalweg steige ich in weiten Kehren zum Rifugio Ca d’Asti (2854m), das von der Diözese Susa betrieben wird, hinunter. Im Jahre 1419 entstand hier die erste Schutzhütte Italiens, nachdem immer mehr Pilger es Bonifacio gleich tun und eine Wallfahrt auf den Gipfel unternehmen wollten. Zu Ehren seines Erstbezwingers nannte man die hölzerne Unterkunft „Ca d’Asti“, das Haus Astis. Im Abstieg erwische ich versehentlich die Alta Via Val di Susa, was mir einen unnötig mühsamen Ausritt in steile, weglose Wildnis beschert. Ich atme tief durch, als ich einen Fahrweg erspähe, der dem wüsten Treiben ein Ende bereitet und mich sicher zum Posto Tappa in Il Trucco (1706m) geleitet.
Erkenntnis des Tages: Der einstmals höchste Berg der Alpen ist fest in Christenhand.
Exakte Routenführung: Rifugio Tazzetti (2642m) – Col di Resta (3183m) – Rocciamelone (3538m) – Rifugio Ca d’Asti (2854m) - Il Trucco (1706m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 1000m; Abstieg: 1950m
Distanz: 10 km
Reale Gehzeit: 7 Std
Almoehi - 28. Mär, 12:50