1.-3. Tag
1. Tag: Sonntag, 9.5.04: Wien (260m) – Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m)
Um exakt 7.45 Uhr fährt mein Nachtzug aus Berlin am Wiener Westbahnhof ein. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, in den nächsten fünf Monaten die Alpen zu überqueren. So what? Da bin ich weder der Erste noch der Letzte. Mag sein, doch erstens werde ich dies nicht wie üblich von Norden nach Süden, sondern von Osten nach Westen tun, und zweitens juckt es mich nicht die Bohne, ob ich irgendwelche Rekorde breche oder nicht. Der Weg ist das Ziel. Ich mache es um meinetwillen, weil ich es will, weil ich die Berge liebe, weil ich die Herausforderung suche. Was erhoffe ich mir davon? Schwierige Frage. Ich möchte mein Dasein intensiv leben, mir jetzt, nach erfolgreich absolviertem Studium, eine Auszeit gönnen, Zeit zum Nachdenken, darüber, wie es weiter gehen soll mit mir und der Welt.
Ich scharre mit den Hufen, am liebsten würde ich sofort losmarschieren. Andererseits lockt das schöne Wien, vor 10 Jahren war ich zum ersten und letzten Mal hier, exakt einen Tag lang. Ich erinnere mich an Kneipen und Cafés, mehr nicht. Also gut: Der prall gefüllte Rucksack mit seinen unhandlichen 25 Kilo landet fürs erste im Schließfach. Was tue ich nur mit der letzten Dosis meiner FSME-Zeckenschutzimpfung? Es bedürfte einer fachkundigen Person, die sie mir injiziert. Ob der Impfstoff die Zugfahrt unversehrt überstanden hat? Ich entsorge ihn präventiv im nächsten Mülleimer, in den nächsten Tagen wird sich ein impfwütiger österreichischer Landarzt finden, bereit, mein Immunsystem auf Vordermann zu bringen. Ich flaniere an Stephansplatz, Donau, Rathaus, Parlament und Burgtheater vorüber und atme den Duft frischer Pferdeäpfel, die die Fuhrwerke der Fiaker auf den Prachtboulevards verstreuen. Würde die Sonne in den nächs-ten fünf Monaten genau so vom Himmel lachen wie heute, wäre ich ihr auf ewig gewogen.
Am Nachmittag steige ich in die Straßenbahnlinie 60 und fahre bis zur Endstation: Rodaun (260m), der Ausgangspunkt meiner kleinen Wanderung. Die schwüle Luft drückt mir den Schweiß aus den Poren, und just, als ich von dannen ziehe, bricht ein heftiges Gewitter los. Der einsetzende Hagel treibt mich unters Bahnhofsdach zurück. So habe ich mir den Auftakt nicht vorgestellt! Eine ganze Stunde lang blitzt und donnert es um die Wette, dann lugen endlich die ersten Sonnenstrahlen hervor. Ich wage mich hinaus, los geht’s! Bald ist der erste von 2.250 Kilometern absolviert. 2.250 Kilometer? Sind kein Pappenstiel, ich weiß, und schlucke. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, grundlos, und nagt an mir. Was soll das? Wofür habe ich mich monatelang akribisch vorbereitet? Wofür habe ich Landkarten und Gebietsführer gewälzt, Kartenpakete versandt, Kondition gebolzt? Damit mir jetzt das Herz in die Hose rutscht? Ganz gewiss nicht. Der schwere, schmerzende Rucksack tut ein Übriges und bringt mich auf andere, kaum weniger beunruhigende Gedanken.
Auf breiten Fahrwegen schleppe ich mich durch den Wienerwald, erreiche das Höllensteinhaus (645m) und ordere ein heißes Süppchen. Am Nebentisch sitzen zwei Wiener, Mutter und Sohn. Der junge Mann promotet Filme. Neulich weilte er extra in Berlin, um ein neues Werk unters Volk zu streuen. Er brachte es immerhin im Moviemento, dem ältesten Kino Berlins – einem meiner Lieblingskinos – unter, doch es floppte gnadenlos. Ebenso gnadenlos floppt meine Suche nach einer Unterkunft: Die Wirtin gibt zu bedenken, dass morgen Ruhetag sei, die Wirtsleute mit ihren beeindruckenden Jeeps ins Tal brausen würden und ich daher nicht übernachten könne. Dann eben nicht! Schlafplätze gibt es wie Sand am Meer, es wird sich was finden. Ich steige zur nächsten Weggabelung hinab, und die Suche ist beendet, ehe sie richtig begann. Ein hölzerner Brotzeitunter-stand mit Tisch und Bänken zwinkert mir zu, ich zwinkere zurück, gebongt! Der Betonboden könnte weicher sein, doch viel wichtiger ist mir ein Dach über dem Kopf. Mag Petrus sich ruhig austoben…
Erkenntnis des Tages: Werden die nächsten 150 Tage auch so spannend, hat sich der Aufwand gelohnt.
Exakte Routenführung: Wien-Rodaun Straßenbahnendhaltestelle (260m) – Höllenstein (645 m) – Unterstand (550m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 450m; Abstieg: 150m
Distanz: 10 km
Reale Gehzeit: 2,5 Std;
2. Tag: Montag, 10.5.04: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Draußen neben Peilsteinhütte (620m)
Der harte Untergrund war dem Schlafkomfort eher abträglich, genauso die nächtlichen Windböen, deren Höllenlärm mich im Auge eines Orkans wähnen ließ. Kurz nach fünf habe ich die Schnauze voll, räume mein Nachtlager und genehmige mir das Standard-Frühstück der nächsten Monate: Müsli in rauhen Mengen. Es schließt den Magen und verscheucht den Hunger für Stunden. Heißer Tee wäre auch nicht schlecht, doch der Gaskocher blieb aus Gewichtsgründen zu Hause.
Über Sittendorf (370m) wandere ich, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Zirpen der Grillen, in ein Waldstück hinein. Bald mischen sich andere Töne ins Konzert und bringen es zum Verstummen. Eine Autobahn! Der A21 Wien – Salzburg wurde eine tiefe Schneise in den Wienerwald geschlagen. Eine geschichtsträchtige Stätte reiht sich an die nächste: Ich erreiche das 1133 vom heiligen Markgrafen Leopold III. aus dem noblen Geschlecht der Babenberger gegründete Zisterzienserstift Heiligenkreuz (312m). Zahllose Priester wurden hier zu solchen gemacht. Ich habe genug Kirchen von innen gesehen und suche das Weite. Aufgewachsen in der erzkatholischen bayerisch-oberpfälzischen Provinz, habe ich bis zur Firmung alle Stationen eines guten Katholiken durchlaufen, sogar die Ehre der Messdienerschaft wurde mir zuteil. Doch die Lücke zwischen dem wohlfeilen Anspruch von Nächstenliebe und Barmherzigkeit und der tristen Realität gelebter Unmenschlichkeit innerhalb der Institution Kirche war zu eklatant, ich kehrte ihr ein für allemal den Rücken.
Eine Stunde später spaziere ich durch Mayerling und wandle erneut auf den Spuren großer, trauriger Geschichte. Schloss Mayerling wurde 1886 von Kronprinz Rudolf von Habsburg, dem Sohn Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn und seiner Gattin Elisabeth, auch Sissi genannt - Romy Schneider in ihrer Paraderolle -, erworben und zum Jagdschloss umgebaut. Am 30. Januar 1889 kam es zum Showdown: Der von Depressionen geplagte Rudolf erschoss zunächst seine 17jährige Geliebte, die Baronesse Mary Vetsera, ehe er sich selbst durch einen Kopfschuss tötete. Und was tat sein Vater? Gebeugt von Kummer und Gram machte er das Schloss zum Kloster und schenkte es den Karmeliterinnen. Zuviel der Frömmelei, ich brauche dringend Ablenkung! Im Gasthaus Mayerling bezirzt mich das Menü für drei Euro neunzig, ein beinahe sozialistischer Preis. Entweder sind die Wirtsleute edle Menschenfreunde und erheben sich aus freien Stücken souverän über das Profitprinzip, oder aber der Konkurrenzkampf tobt derart unerbittlich, dass sie bei Strafe ihres Untergangs die Ware zu Schleuderpreisen feilbieten müssen. Spargelcremesuppe und krustiger Schweinebraten erwecken nicht den Eindruck von Gammelfleisch oder –spargel.
Mit vollem Magen schlendere ich durch Maria Raisenmarkt (371m), das Dorf mit dem wunderlichen Namen, ehe der Weg einen rasanten Aufschwung nimmt. Vorbei an herrlichen Kletterfelsen mit tadellos gebohrten Haken und riesigen Höhlen gelange ich zum mächtig-klobigen Peilsteinhaus auf dem Gipfelplateau des Peilsteins (716m), mit ebenso mächtig – bärtigem Wirt. Von Statur und Auftreten her erinnert er an Heidis Almöhi. Ich ahnte schon, welch Déjà-Vu mich ereilen würde. Wegen des morgigen Ruhetags sei heute leider keine Übernachtung möglich, am besten steige ich ab ins Tal, es sei ja nicht so weit. Niemals! Um keinen Verdacht zu wecken, tue ich so als ob. Die Erfahrung lehrt, dass österreichische Hüttenwirte alles andere als begeistert sind, sollte jemand die Frechheit besitzen, draußen, in der Nähe ihres Reiches, zu nächtigen. Man könnte ja für Unordnung sorgen, Müll hinterlassen, oder gar frisch gepflanzte Blumenrabatte achtlos zertreten. Brav marschiere ich los, stoppe jedoch nach 100 Höhenmetern vor der ebenfalls geschlossenen Peilsteinhütte (620m). Ein optimaler Biwakplatz sieht anders aus, doch 21 Kilometer sind genug, ich kann und mag nicht mehr. Was mache ich nur, wenn es regnet? Auf den stark bewölkten Himmel ist kein Verlass, es bedarf eines Notfallplans. Ich sondiere die ordentlich verschlossenen Lauben ringsum, in Gefahr und größter Not flüchte ich mich unter eines ihrer Vordächer.
Erkenntnis des Tages: Eine Überdosis Katholizismus schlägt mir aufs Gemüt.
Exakte Routenführung: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Sittendorf (370m) – Heiligenkreuz (312m) – Maria Raisenmarkt (371m) – Peilstein (716m) – Peilsteinhütte (620m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 665m; Abstieg: 600m
Distanz: 21 km
Reale Gehzeit: 6 Std
3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
Nachts fegte ein stürmischer Wind über mich hinweg, ich kramte die Fleecemütze hervor und zog sie auf. Meinen Minus 15 Grad North Face- Daunenschlafsack brachte er nicht in Verlegenheit. Summa summarum war mir der Wettergott gewogen: Zwar ließ mitten in der Nacht spärlich herab tropfender Regen die Alarmglocken schrillen, doch die Flucht unters Vordach blieb mir erspart.
Frühmorgens steige ich nach Altenmarkt an der Triesting (410m) ab und halte an der Landarztpraxis Dr. I. inne. Soll ich wirklich eintreten und die sterile Praxisluft mit herbem Duft anreichern? Seit drei Tagen habe ich weder einen Waschraum von innen gesehen noch meine Kleidung gewechselt. Andererseits würde mir eine Dosis Encepur 0,5 ml sehr gut tun, denn Zecken gibt es genug hier, und eine Hirnhautentzündung ist das letzte, was ich gebrauchen kann. Ich trete ein, trage mein Anliegen vor und nehme Platz. Mein Rucksack erregt Aufsehen, das überdimensionierte Teil lehnt gut sichtbar für alle an der Wand. Ich verschanze mich hinter einer Zeitung und beobachte den Betrieb. Neben mir warten drei Männer mit schwarzer Hautfarbe, einem von ihnen geht es besonders schlecht. Die Arzthelferinnen führen mehrere Telefonate und verkünden, dass nach Rücksprache mit den zuständigen Behörden die Behandlung verweigert werden müsse. Für „Asylanten“ werde so etwas nicht finanziert. In mir schäumt die Wut. Anstatt zu intervenieren, verharre ich in feiger Beobachterpose. Der junge Herr Landarzt scheint ganz gut zu leben in dieser Idylle, über mangelnde Kundschaft kann er sich nicht beklagen. Wieso drückt er kein Auge zu und gewährt einem kranken Menschen Hilfe? Würden ihm dann morgen sämtliche „Asylanten“ Österreichs die Bude einrennen? Bloß kein Exempel statuieren! Bald bin ich an der Reihe, ich bekomme eine Spritze verpasst, zahle in bar und schreite von dannen.
Anschwellender Regen zwingt mich eine endlos lange halbe Stunde in ein Bushäuschen, wie ein Raubtier im Käfig mustere ich die unaufhörlich trommelnden Tropfen. Es fisselt immer noch, als ich zum Hocheck-Schutzhaus (1037m) hinauf flaniere. Kurz vor der Hütte überschreite ich mit triumphaler Geste, in feuchte Nebelschwaden gehüllt, zum ersten Mal die 1000m-Marke. Meine heroische Tat belohne ich mit dampfender Leberknödelsuppe und leckerem Topfkuchen.
Trotz schweren Magens genieße ich die vierstündige Kammwanderung zur Enzianhütte (1107m) in vollen Zügen. Ich wusste es: Mit sicherem Gespür für meine Zeitplanung legten die Wirtsleute ihren zweifellos wohlverdienten Ruhetag auf den Dienstag. Nicht schon wieder draußen pennen! Halt, zu früh gestöhnt, das Kieneck ist von anderem Kaliber als Höllen- oder Peilstein, hier werden Menschen in Not nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern ins „Notlager“ gesteckt. Meiner „Flüssigkeitsnot“ – ich habe Durst – tut dies keinen Abbruch. Wo soll sie auch her kommen, hier oben auf dem Gipfel? Dabei hatte ich vor Abmarsch wie immer akribisch geprüft, wo Wasserquellen, Bäche oder Flüsse anzuzapfen sind, und in schwierigen Rechenoperationen die mitzuführende Wassermenge mathematisch genau kalkuliert. Irgendwo hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, für die nächsten zwölf Stunden bleibt mir exakt ein halber Liter. Da erblicken meine halluzinierenden Augen ein blaues Wasserfass. Eine Fata Morgana? Nicht ganz, nur eklige, übel riechende, mit Laub und Ästen gewürzte Brühe. Bevor der Würgreiz einsetzt, ziehe ich mich in mein drei Quadratmeter kleines Kämmerlein zurück und danke Gott, dass er mich zumindest auf einer weichen Stinkematratze nächtigen lässt.
Erkenntnis des Tages: Auch in der österreichischen Provinz werden Asylsuchende unmenschlich behandelt.
Exakte Routenführung: Peilsteinhütte (620m) – Altenmarkt/ Triesting (410m) – Hocheck (1037m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 985m; Abstieg: 585m
Distanz: 25 km
Reale Gehzeit: 7 Std
Um exakt 7.45 Uhr fährt mein Nachtzug aus Berlin am Wiener Westbahnhof ein. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, in den nächsten fünf Monaten die Alpen zu überqueren. So what? Da bin ich weder der Erste noch der Letzte. Mag sein, doch erstens werde ich dies nicht wie üblich von Norden nach Süden, sondern von Osten nach Westen tun, und zweitens juckt es mich nicht die Bohne, ob ich irgendwelche Rekorde breche oder nicht. Der Weg ist das Ziel. Ich mache es um meinetwillen, weil ich es will, weil ich die Berge liebe, weil ich die Herausforderung suche. Was erhoffe ich mir davon? Schwierige Frage. Ich möchte mein Dasein intensiv leben, mir jetzt, nach erfolgreich absolviertem Studium, eine Auszeit gönnen, Zeit zum Nachdenken, darüber, wie es weiter gehen soll mit mir und der Welt.
Ich scharre mit den Hufen, am liebsten würde ich sofort losmarschieren. Andererseits lockt das schöne Wien, vor 10 Jahren war ich zum ersten und letzten Mal hier, exakt einen Tag lang. Ich erinnere mich an Kneipen und Cafés, mehr nicht. Also gut: Der prall gefüllte Rucksack mit seinen unhandlichen 25 Kilo landet fürs erste im Schließfach. Was tue ich nur mit der letzten Dosis meiner FSME-Zeckenschutzimpfung? Es bedürfte einer fachkundigen Person, die sie mir injiziert. Ob der Impfstoff die Zugfahrt unversehrt überstanden hat? Ich entsorge ihn präventiv im nächsten Mülleimer, in den nächsten Tagen wird sich ein impfwütiger österreichischer Landarzt finden, bereit, mein Immunsystem auf Vordermann zu bringen. Ich flaniere an Stephansplatz, Donau, Rathaus, Parlament und Burgtheater vorüber und atme den Duft frischer Pferdeäpfel, die die Fuhrwerke der Fiaker auf den Prachtboulevards verstreuen. Würde die Sonne in den nächs-ten fünf Monaten genau so vom Himmel lachen wie heute, wäre ich ihr auf ewig gewogen.
Am Nachmittag steige ich in die Straßenbahnlinie 60 und fahre bis zur Endstation: Rodaun (260m), der Ausgangspunkt meiner kleinen Wanderung. Die schwüle Luft drückt mir den Schweiß aus den Poren, und just, als ich von dannen ziehe, bricht ein heftiges Gewitter los. Der einsetzende Hagel treibt mich unters Bahnhofsdach zurück. So habe ich mir den Auftakt nicht vorgestellt! Eine ganze Stunde lang blitzt und donnert es um die Wette, dann lugen endlich die ersten Sonnenstrahlen hervor. Ich wage mich hinaus, los geht’s! Bald ist der erste von 2.250 Kilometern absolviert. 2.250 Kilometer? Sind kein Pappenstiel, ich weiß, und schlucke. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, grundlos, und nagt an mir. Was soll das? Wofür habe ich mich monatelang akribisch vorbereitet? Wofür habe ich Landkarten und Gebietsführer gewälzt, Kartenpakete versandt, Kondition gebolzt? Damit mir jetzt das Herz in die Hose rutscht? Ganz gewiss nicht. Der schwere, schmerzende Rucksack tut ein Übriges und bringt mich auf andere, kaum weniger beunruhigende Gedanken.
Auf breiten Fahrwegen schleppe ich mich durch den Wienerwald, erreiche das Höllensteinhaus (645m) und ordere ein heißes Süppchen. Am Nebentisch sitzen zwei Wiener, Mutter und Sohn. Der junge Mann promotet Filme. Neulich weilte er extra in Berlin, um ein neues Werk unters Volk zu streuen. Er brachte es immerhin im Moviemento, dem ältesten Kino Berlins – einem meiner Lieblingskinos – unter, doch es floppte gnadenlos. Ebenso gnadenlos floppt meine Suche nach einer Unterkunft: Die Wirtin gibt zu bedenken, dass morgen Ruhetag sei, die Wirtsleute mit ihren beeindruckenden Jeeps ins Tal brausen würden und ich daher nicht übernachten könne. Dann eben nicht! Schlafplätze gibt es wie Sand am Meer, es wird sich was finden. Ich steige zur nächsten Weggabelung hinab, und die Suche ist beendet, ehe sie richtig begann. Ein hölzerner Brotzeitunter-stand mit Tisch und Bänken zwinkert mir zu, ich zwinkere zurück, gebongt! Der Betonboden könnte weicher sein, doch viel wichtiger ist mir ein Dach über dem Kopf. Mag Petrus sich ruhig austoben…
Erkenntnis des Tages: Werden die nächsten 150 Tage auch so spannend, hat sich der Aufwand gelohnt.
Exakte Routenführung: Wien-Rodaun Straßenbahnendhaltestelle (260m) – Höllenstein (645 m) – Unterstand (550m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 450m; Abstieg: 150m
Distanz: 10 km
Reale Gehzeit: 2,5 Std;
2. Tag: Montag, 10.5.04: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Draußen neben Peilsteinhütte (620m)
Der harte Untergrund war dem Schlafkomfort eher abträglich, genauso die nächtlichen Windböen, deren Höllenlärm mich im Auge eines Orkans wähnen ließ. Kurz nach fünf habe ich die Schnauze voll, räume mein Nachtlager und genehmige mir das Standard-Frühstück der nächsten Monate: Müsli in rauhen Mengen. Es schließt den Magen und verscheucht den Hunger für Stunden. Heißer Tee wäre auch nicht schlecht, doch der Gaskocher blieb aus Gewichtsgründen zu Hause.
Über Sittendorf (370m) wandere ich, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Zirpen der Grillen, in ein Waldstück hinein. Bald mischen sich andere Töne ins Konzert und bringen es zum Verstummen. Eine Autobahn! Der A21 Wien – Salzburg wurde eine tiefe Schneise in den Wienerwald geschlagen. Eine geschichtsträchtige Stätte reiht sich an die nächste: Ich erreiche das 1133 vom heiligen Markgrafen Leopold III. aus dem noblen Geschlecht der Babenberger gegründete Zisterzienserstift Heiligenkreuz (312m). Zahllose Priester wurden hier zu solchen gemacht. Ich habe genug Kirchen von innen gesehen und suche das Weite. Aufgewachsen in der erzkatholischen bayerisch-oberpfälzischen Provinz, habe ich bis zur Firmung alle Stationen eines guten Katholiken durchlaufen, sogar die Ehre der Messdienerschaft wurde mir zuteil. Doch die Lücke zwischen dem wohlfeilen Anspruch von Nächstenliebe und Barmherzigkeit und der tristen Realität gelebter Unmenschlichkeit innerhalb der Institution Kirche war zu eklatant, ich kehrte ihr ein für allemal den Rücken.
Eine Stunde später spaziere ich durch Mayerling und wandle erneut auf den Spuren großer, trauriger Geschichte. Schloss Mayerling wurde 1886 von Kronprinz Rudolf von Habsburg, dem Sohn Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn und seiner Gattin Elisabeth, auch Sissi genannt - Romy Schneider in ihrer Paraderolle -, erworben und zum Jagdschloss umgebaut. Am 30. Januar 1889 kam es zum Showdown: Der von Depressionen geplagte Rudolf erschoss zunächst seine 17jährige Geliebte, die Baronesse Mary Vetsera, ehe er sich selbst durch einen Kopfschuss tötete. Und was tat sein Vater? Gebeugt von Kummer und Gram machte er das Schloss zum Kloster und schenkte es den Karmeliterinnen. Zuviel der Frömmelei, ich brauche dringend Ablenkung! Im Gasthaus Mayerling bezirzt mich das Menü für drei Euro neunzig, ein beinahe sozialistischer Preis. Entweder sind die Wirtsleute edle Menschenfreunde und erheben sich aus freien Stücken souverän über das Profitprinzip, oder aber der Konkurrenzkampf tobt derart unerbittlich, dass sie bei Strafe ihres Untergangs die Ware zu Schleuderpreisen feilbieten müssen. Spargelcremesuppe und krustiger Schweinebraten erwecken nicht den Eindruck von Gammelfleisch oder –spargel.
Mit vollem Magen schlendere ich durch Maria Raisenmarkt (371m), das Dorf mit dem wunderlichen Namen, ehe der Weg einen rasanten Aufschwung nimmt. Vorbei an herrlichen Kletterfelsen mit tadellos gebohrten Haken und riesigen Höhlen gelange ich zum mächtig-klobigen Peilsteinhaus auf dem Gipfelplateau des Peilsteins (716m), mit ebenso mächtig – bärtigem Wirt. Von Statur und Auftreten her erinnert er an Heidis Almöhi. Ich ahnte schon, welch Déjà-Vu mich ereilen würde. Wegen des morgigen Ruhetags sei heute leider keine Übernachtung möglich, am besten steige ich ab ins Tal, es sei ja nicht so weit. Niemals! Um keinen Verdacht zu wecken, tue ich so als ob. Die Erfahrung lehrt, dass österreichische Hüttenwirte alles andere als begeistert sind, sollte jemand die Frechheit besitzen, draußen, in der Nähe ihres Reiches, zu nächtigen. Man könnte ja für Unordnung sorgen, Müll hinterlassen, oder gar frisch gepflanzte Blumenrabatte achtlos zertreten. Brav marschiere ich los, stoppe jedoch nach 100 Höhenmetern vor der ebenfalls geschlossenen Peilsteinhütte (620m). Ein optimaler Biwakplatz sieht anders aus, doch 21 Kilometer sind genug, ich kann und mag nicht mehr. Was mache ich nur, wenn es regnet? Auf den stark bewölkten Himmel ist kein Verlass, es bedarf eines Notfallplans. Ich sondiere die ordentlich verschlossenen Lauben ringsum, in Gefahr und größter Not flüchte ich mich unter eines ihrer Vordächer.
Erkenntnis des Tages: Eine Überdosis Katholizismus schlägt mir aufs Gemüt.
Exakte Routenführung: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Sittendorf (370m) – Heiligenkreuz (312m) – Maria Raisenmarkt (371m) – Peilstein (716m) – Peilsteinhütte (620m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 665m; Abstieg: 600m
Distanz: 21 km
Reale Gehzeit: 6 Std
3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
Nachts fegte ein stürmischer Wind über mich hinweg, ich kramte die Fleecemütze hervor und zog sie auf. Meinen Minus 15 Grad North Face- Daunenschlafsack brachte er nicht in Verlegenheit. Summa summarum war mir der Wettergott gewogen: Zwar ließ mitten in der Nacht spärlich herab tropfender Regen die Alarmglocken schrillen, doch die Flucht unters Vordach blieb mir erspart.
Frühmorgens steige ich nach Altenmarkt an der Triesting (410m) ab und halte an der Landarztpraxis Dr. I. inne. Soll ich wirklich eintreten und die sterile Praxisluft mit herbem Duft anreichern? Seit drei Tagen habe ich weder einen Waschraum von innen gesehen noch meine Kleidung gewechselt. Andererseits würde mir eine Dosis Encepur 0,5 ml sehr gut tun, denn Zecken gibt es genug hier, und eine Hirnhautentzündung ist das letzte, was ich gebrauchen kann. Ich trete ein, trage mein Anliegen vor und nehme Platz. Mein Rucksack erregt Aufsehen, das überdimensionierte Teil lehnt gut sichtbar für alle an der Wand. Ich verschanze mich hinter einer Zeitung und beobachte den Betrieb. Neben mir warten drei Männer mit schwarzer Hautfarbe, einem von ihnen geht es besonders schlecht. Die Arzthelferinnen führen mehrere Telefonate und verkünden, dass nach Rücksprache mit den zuständigen Behörden die Behandlung verweigert werden müsse. Für „Asylanten“ werde so etwas nicht finanziert. In mir schäumt die Wut. Anstatt zu intervenieren, verharre ich in feiger Beobachterpose. Der junge Herr Landarzt scheint ganz gut zu leben in dieser Idylle, über mangelnde Kundschaft kann er sich nicht beklagen. Wieso drückt er kein Auge zu und gewährt einem kranken Menschen Hilfe? Würden ihm dann morgen sämtliche „Asylanten“ Österreichs die Bude einrennen? Bloß kein Exempel statuieren! Bald bin ich an der Reihe, ich bekomme eine Spritze verpasst, zahle in bar und schreite von dannen.
Anschwellender Regen zwingt mich eine endlos lange halbe Stunde in ein Bushäuschen, wie ein Raubtier im Käfig mustere ich die unaufhörlich trommelnden Tropfen. Es fisselt immer noch, als ich zum Hocheck-Schutzhaus (1037m) hinauf flaniere. Kurz vor der Hütte überschreite ich mit triumphaler Geste, in feuchte Nebelschwaden gehüllt, zum ersten Mal die 1000m-Marke. Meine heroische Tat belohne ich mit dampfender Leberknödelsuppe und leckerem Topfkuchen.
Trotz schweren Magens genieße ich die vierstündige Kammwanderung zur Enzianhütte (1107m) in vollen Zügen. Ich wusste es: Mit sicherem Gespür für meine Zeitplanung legten die Wirtsleute ihren zweifellos wohlverdienten Ruhetag auf den Dienstag. Nicht schon wieder draußen pennen! Halt, zu früh gestöhnt, das Kieneck ist von anderem Kaliber als Höllen- oder Peilstein, hier werden Menschen in Not nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern ins „Notlager“ gesteckt. Meiner „Flüssigkeitsnot“ – ich habe Durst – tut dies keinen Abbruch. Wo soll sie auch her kommen, hier oben auf dem Gipfel? Dabei hatte ich vor Abmarsch wie immer akribisch geprüft, wo Wasserquellen, Bäche oder Flüsse anzuzapfen sind, und in schwierigen Rechenoperationen die mitzuführende Wassermenge mathematisch genau kalkuliert. Irgendwo hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, für die nächsten zwölf Stunden bleibt mir exakt ein halber Liter. Da erblicken meine halluzinierenden Augen ein blaues Wasserfass. Eine Fata Morgana? Nicht ganz, nur eklige, übel riechende, mit Laub und Ästen gewürzte Brühe. Bevor der Würgreiz einsetzt, ziehe ich mich in mein drei Quadratmeter kleines Kämmerlein zurück und danke Gott, dass er mich zumindest auf einer weichen Stinkematratze nächtigen lässt.
Erkenntnis des Tages: Auch in der österreichischen Provinz werden Asylsuchende unmenschlich behandelt.
Exakte Routenführung: Peilsteinhütte (620m) – Altenmarkt/ Triesting (410m) – Hocheck (1037m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 985m; Abstieg: 585m
Distanz: 25 km
Reale Gehzeit: 7 Std
Almoehi - 25. Mär, 15:40