Übelkeit am Piz Linard

28
Mrz
2013

80. Tag

Chamanna Marangun (2025m)
Dienstag, 27.7.04: Chamanna Marangun (2023m) – Linardhütte (2327m)

Wie jeden Morgen gilt auch heute mein erster Gang dem Lokus, in diesem Fall einem alles andere als lauschigen Klohäuschen 50 Meter von der Hütte entfernt. Es steht direkt an einem rauschenden Bach, den die dahin schmelzenden Vadretta („Gletscher“) da las Maisas, Tiatscha/ La Cudera und Plan Rai nähren, meine Fäkalien werden sogleich in den allgemeinen Wasserkreislauf eingespeist. In ganz Österreich habe ich derartiges nicht erlebt, im 21. Jahrhundert gibt es Mittel und Wege, sich anderweitig zu behelfen. Ganz zu schweigen von den armen, unwissenden Geschöpfen, die flussabwärts ihren Gaumen im tosenden, verführerisch klaren, frischen Gebirgsbach kühlen. Lassen wir die Kirche im Dorf: Die Chamanna Marangun („Hütte an der oberen Alpstufe“) ist keine Massenunterkunft, sie verfügt über exakt zwölf Plätze und liegt in einem der einsamsten Teilgebiete der Silvretta. Laut Hüttenbuch übernachtet hier selbst in der Hochsaison an über der Hälfte der Tage überhaupt niemand, an den übrigen Tagen hält sich der Andrang stark in Grenzen. Wieso Unmengen von Geld in eine moderne Abwasseranlage investieren, wenn das Ökosystem mit den anfallenden Belastungen bestens zu recht kommt?
Heute wird es anspruchsvoll: Ich möchte den Piz Linard (3411m) erklettern, und zwar über den selten begangenen Nordostgrat - im Hüttenbuch finde ich keinen einzigen Eintrag dazu -, als Abstiegsroute habe ich den Normalweg über die Südwand auf dem Plan.
Piz Linard (3411m) aus südöstlicher Richtung
Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir zweierlei: Zum einen soll der Fels, vor allem im Abstieg, arg brüchig sein, es droht Steinschlag, ich habe keinen Helm. Zum anderen ist das Wetter mehr als durchwachsen. Wie blöd von mir, dass ich gestern keinen Wetterbericht eingeholt habe, jetzt, da ich im Funkloch sitze, ist es zu spät. Es bleibt das Prinzip Hoffnung, eigentlich zu wenig für einen Grat diesen Kalibers.
Ich zaudere und zögere den Abmarsch hinaus, um acht Uhr fasse ich mir endlich ein Herz und mühe mich über Gras und Alpenrosen ins Val Muntanellas hinauf. Auf 2.600 Metern wende ich mich dem Grat zu, ich versuche es zumindest. Gar nicht so einfach in diesem steilen, elendiglich brüchigen, von Schnee- und Eisresten gesäumten Terrain. Der Rucksack lastet beinahe zu schwer auf meinem Rücken, ich puste und röchle, und in meinem Kopf beginnt es zu hämmern, als ich - kurz davor, umzukehren - unter Einsatz all meiner Kräfte gefühlte Stunden später den Grat erreiche. Ich hätte ihn viel weiter unten anpeilen müssen, doch die Routenbeschreibung war so unpräzise, dass ich nach Sicht und Gefühl operierte.
Nord-Ost-Grat des Piz Linard (3411m)
Menschliche Spuren sucht man hier vergebens, jeden Griff, jeden Tritt prüfe ich sorgfältigst, ehe ich ihn belaste, und dennoch donnern von Zeit zu Zeit lose Geröllbrocken ins Nichts. Die Kopfschmerzen haben sich zu übler Migräne ausgewachsen, der Moment könnte ungünstiger nicht sein. Früher, als ich beim Fußball das Spielfeld rauf und runter pflügte, piesackte sie mich mit schöner Regelmäßigkeit, setzte mich für den Rest des Tages schachmatt und ließ mich meist erbrechen. Das sollte jetzt besser nicht passieren, doch ich fühle mich hundeelend und werde mich vermutlich demnächst meines Frühstücks entledigen. Die Wolken hängen tief, ich sehe gerade zehn Meter weit, doch die Richtung ist klar: Immer schön nach oben, die Gratschneide entlang. Es ist beinahe Drei, als ich den steinernen Riesen endlich bezwungen habe, ich pfeife aus dem letzten Loch.
Piz Linard-Gipfel (3411m)
Pünktlich zum Gipfelsieg rieseln die ersten Schneeflocken herab. An einem schönen Tag wäre der Ausblick genial, Jungfrau (4158m), Finsteraarhorn (4273m) und Bernina (4049m) grüßten herüber – nicht so heute, ich sehe nur Wolken, nichts als Wolken. Erstmals erklommen wurde der Linard am Ersten August 1835 von Oswald Heer, einem Naturforscher, und seinem Führer Johann Madutz. Es geht jedoch das Gerücht, dass bereits 263 Jahre vor den beiden ein sagenhafter Mann namens Chuonard den Linard bestiegen und auf dem höchsten Punkt ein goldenes Kreuz befestigt haben soll. Ein solches ist nicht mehr vorhanden, es sei denn, jemand hat es gepackt und in einen grünen Farbeimer getunkt, denn genau das widerfuhr dem spärlichen, eines Gipfels diesen Ranges unwürdigen Holzkreuz. Die Südflanke des Berges – meine Abstiegsroute - beschrieb der Bündner Geschichtsschreiber Campell schon 1572:
„Der Teil des Berges, der gegen das Gebiet von Lavin zu liegt, wird auf rätisch Lgymps genannt, das heisst Olymp. Dies ohne Zweifel wegen der unglaublichen Höhe, darin er dem berühmten Berge Griechenlands gleichkommt, der auch öfters von den Dichtern im Sinne des Wortes Himmel verwendet wird“.
Der Linard kommt dem Olymp (2917m) in puncto Höhe nicht nur gleich, er überragt ihn sogar um exakt 500 Meter! Normalerweise ist der Abstieg über steile Schutt- und Firnfelder in zweieinhalb Stunden gut machbar, ich dagegen brauche geschlagene fünf Stunden. Unendlich oft sinke ich erschöpft zu Boden und pausiere, bis es dann in Sichtweite der Linardhütte (2327m) endlich soweit ist: Mein Magen entleert sich und düngt den saftig grünen Almboden. Ich möchte nur noch schlafen! Der mitfühlende Wirt bringt mich separat von den anderen Gästen unter, im Nu bin ich sanft entschlummert.

Erkenntnis des Tages:
Ich habe mich übernommen.

Exakte Routenführung: Chamanna Marangun (2023m) – Piz Linard (3411m) – Linardhütte (2327m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 1400m; Abstieg: 1100m
Distanz: 7 km
Reale Gehzeit: 11 Std
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