Wieder kein Gipfel

28
Mrz
2013

95. Tag

Capanna Campo Tencia (2140m)
Mittwoch, 11.8.04: Capanna Campo Tencia (2140m) - Capanna Leit (2260m)

Um sechs Uhr gießt es in Strömen, ich setze mich in die Gaststube, frühstücke, warte, lese, warte, und scharre mit den Hufen. Wie schön wäre es, heute den Pizzo Campo Tencia (3071m) hinauf zu kraxeln! Bleibt mir auch dieser Gipfel verwehrt? Es sieht ganz danach aus, das Pech klebt mir an den Stiefeln, wahrscheinlich interpretieren die überirdischen Mächte mein Ansinnen als Provokation und peinigen mich zur Strafe. Der Campo Tencia ist kein x-beliebiger Hügel, sondern der höchste Berg, der ganz auf Tessiner Boden steht. Höhere Wipfel wie Rheinwaldhorn (3402m, mit Graubünden) oder Basodino (3272m, mit Italien) sind nur halbe Tessiner.
Stundenlang schon sitze ich herum, verzehre meine Vorräte und konsumiere nicht. Dabei ist Herr Benigni berühmt für seine Küche, doch ich bin bockig, er hätte meine Socken nicht so respektlos behandeln dürfen. Einige Versprengte, die sich todesmutig ins Unwetter hinaus wagen, decken mich vorher mit Vorräten ein. Sollte ich keinen Millimeter vorwärts kommen heute? Um vier Uhr reißt mir die Hutschnur, ich beschließe, noch etwas frische Luft zu schnappen und nehme den Übergang zur Capanna Leit (2260m) in Angriff. Der bestens markierte Weg ist nicht zu verfehlen, ein Verirren trotz der dichten Dunstschleier unmöglich. Letzte Altschneereste säumen den Weg, Plinio Grossi sieht sie mit den Augen des Poeten:
„Die umliegende Landschaft beherbergt in ihrer Weite Schneefelder (abgewetzte, gegen den Berg hingelegte Teppiche, die Gott weiß was versteckt halten)... Der letzte Schnee scheint diesen wundersam stillen Ort absichtlich ausgewählt zu haben, um in Frieden den nächsten abzuwarten.“
Mögen die Schneefelder bei Grossi Assoziationen behaglicher Teppiche wecken, sie bleiben rutschige, nicht selten gefährliche Matten, dazu da, einem das Leben schwer zu machen. Über glitschige Grasbänder und Felsplatten schwinge ich mich zur Alpe Lei di Cima (2400m) hinauf. Schräg gegenüber liegt der Lago di Morghirolo (2264m), den Plinio Grossi in den allerschönsten Farben malt:
„Die eine Seite des Ufers wird von zyklopischen Gesteinsbrocken gezäunt, die andere vom Gras, das im Morghirolo wundervolle Lichtpuzzles bildet, die sich von Stunde zu Stunde verändern. Damit reicht die Farbpalette des Morghirolo von grau bis grün, wobei ersteres, obschon in perfekter Harmonie mit dem Grau der umliegenden Felsen, nicht die Mannigfaltigkeit des Grüns besitzt, das sich in hundert Variationen – auf und unter dem Wasser – offenbart: im Grün des Morgengrauens (schwarze Fransen), des Windes (zitternde Silberziselierungen) oder etwa des Zenits (der mit seinem starken Funkeln die Fische fernhält).“
Im Moment reicht die Farbpalette von Hellgrau bis Dunkelgrau, schwermütig schleifen die Wolken über den klammen Boden. Anfangs nieselt es leicht, am Passo di Leit (2431m) öffnen sich dann die Himmelsschleusen.
Capanna Leit (2260m)
Trotz des Sauwetters logieren 20 Gäste in der unbewirtschafteten Hütte, ein interessantes Experiment anarchischer Selbstorganisation. Wie immer in solchen Fällen haben sich informelle Strukturen gebildet, einige ausschließlich männliche Wesen mimen den Bestimmer und verfügen, wo genau meine Klamotten zu trocknen haben. Zum Streiten zu müde leiste ich den Anweisungen Gehorsam und okkupiere ein unbelegtes Lager. Wehe dem, der es wagt, meine Ruhe zu stören!
Lago Leit (2260m)

Erkenntnis des Tages: Plinio Grossi ist ein wahrer Poet.

Exakte Routenführung: Capanna Campo Tencia (2140m) - P. 2481m - Capanna Leit (2260m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 350m; Abstieg: 250m
Distanz: 3 km
Reale Gehzeit: 2 Std
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In fünf Monaten von Wien bis ans Mittelmeer

Eine kleine Wanderung


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