25
Mrz
2013

Meine Alpenüberquerung Wien - Menton

In insgesamt 151 Tagen überquerte ich vom 8. Mai bis zum 6. Oktober 2004 zu Fuß den gesamten Alpenbogen zwischen Wien und der italienisch-französischen Mittelmeerküste bei Menton.

Vor kurzem habe ich ein Buch über meine Wanderung veröffentlicht:

Cover_vorn

Cover_hinten

Es folgt ein kurzer Werbeblock:

"286.000 Höhenmeter, 2.200 Kilometer, fast 900 Stunden zu Fuß unterwegs – so lautet die Bilanz von Thomas Kunz’ fünfmonatiger Ost-West-Alpenüberquerung, die ihn von Österreichs Hauptstadt bis in die französischen Seealpen führte.
Doch es waren nicht nur bloße Zahlen: Seine strapaziöse, nicht selten von Grenzerfahrungen geprägte Bildungsreise führte ihn sowohl durch menschenleeres Gebiet als auch durch touristisch übererschlossene Bettenburgen. Er traf nicht selten skurrile, aber auch herzliche, hilfsbereite Menschen. Und selbst dort, wo er es nicht erwartet hätte, erwiesen sich die Alpen als eine Kulturlandschaft, die in jahrhundertelanger Tätigkeit von Menschenhand geformt wurde."

Die Basics zum Buch:
Taschenbuch: 340 Seiten
Verlag: epubli GmbH
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3844211101
ISBN-13: 978-3844211108
17,28 €

Monviso-Nordflanke (3841m)

Route:
Wien, Wienerwald, Schneeberg, Rax, Hochschwab, Gesäuse, Niedere Tauern, Hohe Tauern, Zillertaler Alpen, Stubaier Alpen, Ötztaler Alpen, Silvretta, Albula-Alpen, Platta-Gruppe, Adula-Gruppe, Tessiner Alpen, Leone-Gruppe, Walliser Alpen, Berner Alpen, Paradiso-Gruppe, Charbonnel-Gruppe, Cottische Alpen, Seealpen, Ligurische Alpen

Großglockner (3798m)

Gipfelauswahl:
Hochschwab (2277m), Hoher Sonnblick (3105m), Kleinglockner (3770m), Hochgall (3435m), Hochfeiler (3510m), Piz Linard (3411m), Piz Platta (3392m), Basodino (3272m), Wildstrubel (3243m), Grand Muveran (3051m), Punta Nera (3683m), Rocciamelone (3538m), Monviso (3841m), Cima Argentera (3297m), Punta Marguareis (2651m)


Wildstrubel-Gipfel (3243m)

Kurzbericht

Am Nachmittag des 06.10.2004 war es soweit: Nach genau 151 Tagen und mehr als 2000 km Fußmarsch erreichte ich das Mittelmeer, das Objekt der Begierde meiner vorangegangenen fünfmonatigen Tour. Ich „strandete“ im französischen Menton, direkt an der Grenze zu Italien gelegen, wo die Berge steil ins Meer abfallen. Am Abend des 08.05.2004 hatte ich am Berliner Ostbahnhof den Nachtzug nach Wien bestiegen, um von dort aus das Unternehmen zu starten.

Planung und Vorbereitung

Gegen Ende meines Studiums hatte sich in mir die fixe Idee verfestigt, vor meinem Eintritt ins Berufsleben eine fünfmonatige „Auszeit“ zu nehmen und dabei etwas zu tun, was mir Spaß macht, mich begeistern kann, und so reifte der Traum einer Ost-West-Überquerung der Alpen heran. Zur Vorbereitung recherchierte ich nach Publikationen, in denen andere BergfreundInnen von ähnlichen Abenteuern berichten. Dabei stieß ich auf zweierlei: Zum einen auf einen Artikel des Wieners Karl Lukan im Alpenvereinsjahrbuch von 1986, in dem er beschreibt, wie er zusammen mit seiner Frau Fritzi nach seiner Pensionierung am 01.05.1984 in Wien losmarschierte, um schließlich am 06.10. Nizza zu erreichen. Zum anderen auf das Projekt „TransALPedes“, bei dem sieben Wanderer im Jahre 1992 in 103 Tagen ebenfalls von Wien bis Nizza unterwegs waren. Ihr Projekt verstanden sie als politische Demonstration gegen die zunehmende Zerstörung des Alpenraumes, was zahlreiche öffentlichkeitswirksame Aktionen einschloss.

Weiterhin existiert bereits ein dichtes Netz von Fernwanderwegen, das die Alpen in alle Richtungen durchzieht (nicht zuletzt die erst kürzlich eingerichtete „Via Alpina“). Für mich war von Anfang an klar, dass ich mir selbst eine Route zusammen“zimmern“ wollte, die auch einige alpinistische „Farbtupfer“, sprich Gipfel oder weglose Passagen, beinhalten sollte. So besorgte ich mir bereits vor meinem Aufbruch das gesamte Kartenmaterial (insgesamt 45 Stück) und konstruierte mit Unterstützung vieler Gebietsführer (zu diesem Zwecke war ich auch öfters Gast in der Bibliothek der Geschäftsstelle) eine detailliert nach den einzelnen Tagen aufgeschlüsselte Route (unterwegs wurde meine genaue Planung dann öfters als „typisch deutsch“ belächelt). Dass ich je nach Verhältnissen bzw. nach Lust und Laune davon abweichen würde, war von Beginn an klar und auch so gewollt. Da die vielen Landkarten unmöglich alle von Beginn an Platz in meinem Rucksack finden konnten, verschickte ich sie meist an Hüttenwirte oder Tourismusbüros, die ich vorher kontaktiert hatte. Auch hatte ich vorher ausgekundschaftet, wo jeweils Lebensmittel käuflich zu erwerben waren, so dass ich stets in etwa kalkulieren konnte, für wie viele Tage ich mich eindecken musste.

Ausrüstung

Die Beschaffenheit meiner Ausrüstung ergab sich aus dem Charakter meiner Unternehmung: Da ich nicht schon beim ersten Schneefeld den Rückzug antreten wollte, waren Pickel und Steigeisen unverzichtbar (und letztere am Ende ziemlich stumpf, da ich sie auch im steilen, nassen Gras desöfteren benutzte). Auch hatte ich vor, ab und an mal draußen zu nächtigen, wofür ich einen warmen Daunenschlafsack mitsamt einer Isomatte benötigte. Auf einen Kocher verzichtete ich, ebenso auf ein Zelt, dafür leistete mir mein Biwaksack treue Dienste.

Insgesamt brachte mein Rucksack etwas mehr als 16 kg auf die Waage, mit Lebensmitteln und Trinkwasser oftmals weit über 20 kg.

Los geht’s...

Wie bereits erwähnt erreichte ich meinen Ausgangsort Wien am 09.05.2004 in aller Frühe. Nach einer kleinen Stadtbesichtigung bestieg ich am frühen Nachmittag die Straßenbahn, um mich von ihr bis nach Rodaun, einem Wiener Ortsteil, chauffieren zu lassen. An der Endhaltestelle begrüßte mich ein kräftiges Gewitter, so dass ich meine erste Tagesetappe im Wienerwald mit erheblicher Verspätung beginnen musste. Die ersten beiden Nächte verbrachte ich gleich im freien, kurioserweise in der Nähe von ÖAV-Hütten (am Höllenstein und am Peilstein). Da diese aber stets am Wochenanfang Ruhetage halten und über keine Winterräume verfügen, blieb mir nichts anderes übrig (alpiner gelegene Hütten kennen glücklicherweise keine Ruhetage). Bereits am fünften Tag erreichte ich am Schneeberg die 2000m-Marke. Der Berg machte seinem Namen alle Ehre, und so zog die erste (von unzähligen) Kaltfront über mich hinweg. Schon bald mutierte dieser Begriff für mich zu einem absoluten Unwort...

Wetter

So sehr ich den Jahrhundertsommer 2003 genoss, so sehr befürchtete ich für das darauffolgende Jahr eine deutliche Verschlechterung, und leider kam es exakt so wie vermutet: Der Winter 2003/04 war in den Alpen sehr schneereich ausgefallen, und zudem erwiesen sich Mai und Juni als überdurchschnittlich kalt: All dies hatte zur Folge, dass ich in den ersten Wochen meiner Unternehmung (etwa in den Niederen und den Hohen Tauern) oftmals durch tiefen Schnee zu waten hatte (und neben mir noch Skitourengänger unterwegs waren, mich oft mit bissigen Bemerkungen begrüßend) und so auf viele vorgesehene Gipfel verzichten musste. Oftmals atmete ich erleichtert auf, wenn sich die niedrigsten Passübergänge überhaupt als einigermaßen begehbar erwiesen. Erst ab der zweiten Julihälfte, als ich den Brenner schon hinter mir gelassen hatte, schmolzen die Schneemassen rasch dahin.

Das schlechte Wetter zu Beginn führte dazu, dass viele Hütten erst relativ spät öffneten und ich viele Nächte in Winterräumen zubrachte. Dies kann sehr angenehm sein, wenn dieselben über einen Ofen verfügen, der den meist feuchten und kalten Räumen Wärme spendet. Leider ist dies oftmals nicht der Fall (ich erinnere mich an eher unangenehme Begebenheiten etwa im Winterraum der Südwiener Hütte in den Niederen Tauern, wo vom Ofen nur mehr das Ofenrohr übrig war und ich vom Regen durchnässt ankam). Und wenn die Hütten trotz der Witterung schon geöffnet hatten, war ich meist der einzige Gast, was Vor- und Nachteile hatte: Einerseits gab es nie Platzprobleme in den Schlafräumen, und es entwickelten sich desöfteren angenehme Gespräche mit den Hüttenwirten. Andererseits klagten sie mir oft ihr Leid über die ausbleibende Kundschaft, so dass ich als spärlicher Konsument (Halbpension war bei meinem Budget einfach nicht machbar) schon fast ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich zum x-ten Male ein Bergsteigeressen orderte. Immerhin erfuhr ich, was das Wetter anbelangt, im September, als ich die Paradiso-Gruppe und die Cottischen Alpen durchstreifte, eine Entschädigung für die anfänglichen Unbilden. Die letzten vier Wochen waren geprägt durch relativ stabiles Hochdruckwetter, auf die Sonne war täglich aufs neue Verlass, und in den Ligurischen Alpen hatte ich gar ernsthafte Probleme mit der Trinkwasserversorgung. Auch von heftigen Gewittern blieb ich glücklicherweise verschont, was aber eher daran lag, dass ich meist versuchte, bereits am frühen Nachmittag am Zielpunkt der Etappe zu sein, und dementsprechend schon spätestens um 6 Uhr früh aufbrach.

Den ersten 3000er erklomm ich am 24. Juni, als ich, von der Rojacherhütte kommend, dem Hohen Sonnblick die Ehre erwies. Das Vergnügen wurde leider durch die vorhandenen Schneemassen etwas getrübt, die mich mehr als knietief einsinken und nur im Schneckentempo vorwärts kommen ließen.

Gipfel

Zwar konzipierte ich meine Unternehmung in erster Linie als Überschreitung, trotzdem wollte ich auf so manchen Gipfel nicht verzichten: Da ich die meiste Zeit (ich wurde nur insgesamt 30 Tage, also ein Fünftel meines Weges, von meinem Vater und einem Freund begleitet) alleine unterwegs war, und ich mich nicht unkalkulierbaren Risiken und Gefahren aussetzen wollte, blieben die größten Gletscher der Alpen und auch das „Reich der 4000er“ diesmal ein Tabu für mich. Zwar betrat ich desöfteren Gletscherzonen, aber dies nur, wenn mir vorher von den Hüttenwirten zugesichert wurde, dass die Spaltengefahr gegen null tendiere bzw. wenn die Gletscher ausgeapert waren. Was den Großglockner anbelangt, so hatte mein Vater extra dafür Gletscherausrüstung mitgebracht. Leider erwischten wir äußerst ungünstige Bedingungen: Kurz vorher hatte es ergiebig geschneit, und die Nullgradgrenze war auf 2500m gesunken, d.h. wir hatten mit kräftigen Minustemperaturen zu kämpfen. Zudem minderten Schneeschauer das Vergnügen, und so verzichteten wir auf die letzten paar Meter von der Glocknerscharte bis zum Gipfel. Von der vielzitierten „Autobahn“, die auf den Gipfel hochführen soll, blieben wir verschont, und waren vielmehr die einzigen Gäste auf der Erzherzog-Johann-Hütte. Größtenteils dem Alpenhauptkamm folgend überquerte ich die österreichisch-schweizerische Grenze am 23. Juli bei Nauders/ Martinsbruck. Den körperlich anstrengendsten Tag insgesamt bescherte mir gleich anschließend die Überschreitung des höchsten Gipfels der Silvretta, des Piz Linard (3411m), die ich von der Chamanna Marangun (2023m) aus über den brüchigen Nordostgrat unternahm. Wegen der unpräzisen Angabe im Führer (für den Punkt der Gratgewinnung wurde keine Höhenmeterzahl angegeben) verfehlte ich die Idealroute, kam insgesamt auf mehr als 12 Stunden Gehzeit und erreichte schließlich vollkommen ausgepowert die Linardhütte (2327m). Wegen einer physischen Schwäche musste ich leider auf den einzig vorgesehenen 4000er, den Gran Paradiso, verzichten, und so bildete der Gipfel des in den Cottischen Alpen gelegenen Monviso (3841m), den ich Mitte September passierte, den höchsten Punkt meiner Expedition. Faszinierend hierbei fand ich, dass ich, von einigen Kletterpassagen und einem einzigen zu querenden Firnfeld abgesehen, quasi einfach so „hochspazieren“ konnte, ohne Pickel, ohne Steigeisen, und das auf einen Gipfel, der alle österreichischen überragt.

Übernachtungsorte

Insgesamt sind die Alpen mit einer hervorragenden Infrastruktur, was Hütten und ähnliche Beherbergungsmöglichkeiten anbelangt, ausgestattet, die ich selbstverständlich in Anspruch nahm (sofern sie sich finanziell in einem gewissen Rahmen bewegten, was Hotels und ähnliches von vornherein ausschloss). Da ich meine Route aber nicht von solchen Eventualitäten abhängig machen wollte, durchstreifte ich desöfteren Gebiete, wo ich übernachtungstechnisch improvisieren musste (was oftmals durch viele leerstehende Gebäude erleichtert wurde). Zudem verbrachte ich bei stabilem Hochdruckwetter desöfteren die Nacht im freien. Ferner erinnere ich mich lebhaft u.a.

- an die Kapelle oberhalb von Sand in Taufers, die mir am Tage des EM-Endspiels Unterschlupf gewährte,

- an die überdachten Holzscheite neben einem Almgebäude, die mir während einer Schlechtwetternacht am Fuße des Muttlers den Rücken massierten,

- an den etwas engen Felsvorsprung, der mich nahe Dorbagnon in den Berner Alpen beim schlimmsten Unwetter des gesamten Sommers beinahe 24 Stunden beherbergte.

Menschen

Zwar verbrachte ich einerseits nicht wenige Tage und Nächte in relativer bzw. völliger Einsamkeit, andererseits begegnete ich nicht selten Menschen, die sich oft sehr hilfsbereit verhielten, als sie von meiner Unternehmung erfuhren. So konnte ich z.B.in Cogne am Fuße des Gran Paradiso umsonst in einer Hotelkammer übernachten und wurde am Personaltisch köstlich bewirtet. Ebenso kulinarisch verwöhnt wurde ich von den Mitgliedern des CAI von San Remo, auf deren Hütte in den Ligurischen Alpen ich ihrem alljährlichen Fest als Gast beiwohnen durfte, wobei „Polenta e salsiccia“ in rauhen Mengen konsumiert wurde. Negative Erfahrungen sammelte ich so gut wie gar nicht, von einer unrühmlichen Ausnahme abgesehen, die mir immerhin eine unvergessliche Sternschnuppen-Nacht im freien bescherte: Der Wirt der Grialetsch-Hütte in Graubünden wies mir in äußerst unfreundlicher Art und Weise wegen Überfüllung seiner Hütte einen Schlafplatz draußen vor seiner Hütte zu (klar kann eine Hütte mal überfüllt sein, aber der Ton macht bekanntlich die Musik).

Fazit

Obwohl die vorangegangenen fünf Monate an meinem Körper nicht unbeschadet vorüber gingen (etwas mehr Pausen wären angemessen gewesen), war es eine fantastische Zeit, an die ich mich noch lange zurückerinnern werde (leider lässt sich kaum jedes Jahr eine derartige Unternehmung realisieren). Auf vielerlei Weise veranschaulicht wurde mir zudem, dass die Alpen, selbst in den höheren Lagen, keineswegs eine unberührte Naturlandschaft sind, sondern eine seit Jahrhunderten von den Menschen in vielfältigen Eingriffen geformte (und zerstörte) Kulturlandschaft. Besonders eindrucksvoll wird einem dies gegen Ende des Alpenbogens, entlang des italienisch-französischen Grenzkamms, vor Augen geführt. Das am meisten militärisch befestigte Terrain der gesamten Alpen ist geprägt von unzähligen Militärstraßen, Kasernen, Bunkern etc. aus den verschiedensten Epochen.

Kontakt zum Autor: alpenueberquerung@gmx.de

1.-3. Tag

1. Tag: Sonntag, 9.5.04: Wien (260m) – Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m)

Um exakt 7.45 Uhr fährt mein Nachtzug aus Berlin am Wiener Westbahnhof ein. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, in den nächsten fünf Monaten die Alpen zu überqueren. So what? Da bin ich weder der Erste noch der Letzte. Mag sein, doch erstens werde ich dies nicht wie üblich von Norden nach Süden, sondern von Osten nach Westen tun, und zweitens juckt es mich nicht die Bohne, ob ich irgendwelche Rekorde breche oder nicht. Der Weg ist das Ziel. Ich mache es um meinetwillen, weil ich es will, weil ich die Berge liebe, weil ich die Herausforderung suche. Was erhoffe ich mir davon? Schwierige Frage. Ich möchte mein Dasein intensiv leben, mir jetzt, nach erfolgreich absolviertem Studium, eine Auszeit gönnen, Zeit zum Nachdenken, darüber, wie es weiter gehen soll mit mir und der Welt.
Ich scharre mit den Hufen, am liebsten würde ich sofort losmarschieren. Andererseits lockt das schöne Wien, vor 10 Jahren war ich zum ersten und letzten Mal hier, exakt einen Tag lang. Ich erinnere mich an Kneipen und Cafés, mehr nicht. Also gut: Der prall gefüllte Rucksack mit seinen unhandlichen 25 Kilo landet fürs erste im Schließfach. Was tue ich nur mit der letzten Dosis meiner FSME-Zeckenschutzimpfung? Es bedürfte einer fachkundigen Person, die sie mir injiziert. Ob der Impfstoff die Zugfahrt unversehrt überstanden hat? Ich entsorge ihn präventiv im nächsten Mülleimer, in den nächsten Tagen wird sich ein impfwütiger österreichischer Landarzt finden, bereit, mein Immunsystem auf Vordermann zu bringen. Ich flaniere an Stephansplatz, Donau, Rathaus, Parlament und Burgtheater vorüber und atme den Duft frischer Pferdeäpfel, die die Fuhrwerke der Fiaker auf den Prachtboulevards verstreuen. Würde die Sonne in den nächs-ten fünf Monaten genau so vom Himmel lachen wie heute, wäre ich ihr auf ewig gewogen.
Am Nachmittag steige ich in die Straßenbahnlinie 60 und fahre bis zur Endstation: Rodaun (260m), der Ausgangspunkt meiner kleinen Wanderung. Die schwüle Luft drückt mir den Schweiß aus den Poren, und just, als ich von dannen ziehe, bricht ein heftiges Gewitter los. Der einsetzende Hagel treibt mich unters Bahnhofsdach zurück. So habe ich mir den Auftakt nicht vorgestellt! Eine ganze Stunde lang blitzt und donnert es um die Wette, dann lugen endlich die ersten Sonnenstrahlen hervor. Ich wage mich hinaus, los geht’s! Bald ist der erste von 2.250 Kilometern absolviert. 2.250 Kilometer? Sind kein Pappenstiel, ich weiß, und schlucke. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, grundlos, und nagt an mir. Was soll das? Wofür habe ich mich monatelang akribisch vorbereitet? Wofür habe ich Landkarten und Gebietsführer gewälzt, Kartenpakete versandt, Kondition gebolzt? Damit mir jetzt das Herz in die Hose rutscht? Ganz gewiss nicht. Der schwere, schmerzende Rucksack tut ein Übriges und bringt mich auf andere, kaum weniger beunruhigende Gedanken.
Auf breiten Fahrwegen schleppe ich mich durch den Wienerwald, erreiche das Höllensteinhaus (645m) und ordere ein heißes Süppchen. Am Nebentisch sitzen zwei Wiener, Mutter und Sohn. Der junge Mann promotet Filme. Neulich weilte er extra in Berlin, um ein neues Werk unters Volk zu streuen. Er brachte es immerhin im Moviemento, dem ältesten Kino Berlins – einem meiner Lieblingskinos – unter, doch es floppte gnadenlos. Ebenso gnadenlos floppt meine Suche nach einer Unterkunft: Die Wirtin gibt zu bedenken, dass morgen Ruhetag sei, die Wirtsleute mit ihren beeindruckenden Jeeps ins Tal brausen würden und ich daher nicht übernachten könne. Dann eben nicht! Schlafplätze gibt es wie Sand am Meer, es wird sich was finden. Ich steige zur nächsten Weggabelung hinab, und die Suche ist beendet, ehe sie richtig begann. Ein hölzerner Brotzeitunter-stand mit Tisch und Bänken zwinkert mir zu, ich zwinkere zurück, gebongt! Der Betonboden könnte weicher sein, doch viel wichtiger ist mir ein Dach über dem Kopf. Mag Petrus sich ruhig austoben…

Erkenntnis des Tages: Werden die nächsten 150 Tage auch so spannend, hat sich der Aufwand gelohnt.

Exakte Routenführung: Wien-Rodaun Straßenbahnendhaltestelle (260m) – Höllenstein (645 m) – Unterstand (550m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 450m; Abstieg: 150m
Distanz: 10 km
Reale Gehzeit: 2,5 Std;

Erster Schlafplatz (550m)

2. Tag: Montag, 10.5.04: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Draußen neben Peilsteinhütte (620m)

Der harte Untergrund war dem Schlafkomfort eher abträglich, genauso die nächtlichen Windböen, deren Höllenlärm mich im Auge eines Orkans wähnen ließ. Kurz nach fünf habe ich die Schnauze voll, räume mein Nachtlager und genehmige mir das Standard-Frühstück der nächsten Monate: Müsli in rauhen Mengen. Es schließt den Magen und verscheucht den Hunger für Stunden. Heißer Tee wäre auch nicht schlecht, doch der Gaskocher blieb aus Gewichtsgründen zu Hause.
Über Sittendorf (370m) wandere ich, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Zirpen der Grillen, in ein Waldstück hinein. Bald mischen sich andere Töne ins Konzert und bringen es zum Verstummen. Eine Autobahn! Der A21 Wien – Salzburg wurde eine tiefe Schneise in den Wienerwald geschlagen. Eine geschichtsträchtige Stätte reiht sich an die nächste: Ich erreiche das 1133 vom heiligen Markgrafen Leopold III. aus dem noblen Geschlecht der Babenberger gegründete Zisterzienserstift Heiligenkreuz (312m). Zahllose Priester wurden hier zu solchen gemacht. Ich habe genug Kirchen von innen gesehen und suche das Weite. Aufgewachsen in der erzkatholischen bayerisch-oberpfälzischen Provinz, habe ich bis zur Firmung alle Stationen eines guten Katholiken durchlaufen, sogar die Ehre der Messdienerschaft wurde mir zuteil. Doch die Lücke zwischen dem wohlfeilen Anspruch von Nächstenliebe und Barmherzigkeit und der tristen Realität gelebter Unmenschlichkeit innerhalb der Institution Kirche war zu eklatant, ich kehrte ihr ein für allemal den Rücken.
Eine Stunde später spaziere ich durch Mayerling und wandle erneut auf den Spuren großer, trauriger Geschichte. Schloss Mayerling wurde 1886 von Kronprinz Rudolf von Habsburg, dem Sohn Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn und seiner Gattin Elisabeth, auch Sissi genannt - Romy Schneider in ihrer Paraderolle -, erworben und zum Jagdschloss umgebaut. Am 30. Januar 1889 kam es zum Showdown: Der von Depressionen geplagte Rudolf erschoss zunächst seine 17jährige Geliebte, die Baronesse Mary Vetsera, ehe er sich selbst durch einen Kopfschuss tötete. Und was tat sein Vater? Gebeugt von Kummer und Gram machte er das Schloss zum Kloster und schenkte es den Karmeliterinnen. Zuviel der Frömmelei, ich brauche dringend Ablenkung! Im Gasthaus Mayerling bezirzt mich das Menü für drei Euro neunzig, ein beinahe sozialistischer Preis. Entweder sind die Wirtsleute edle Menschenfreunde und erheben sich aus freien Stücken souverän über das Profitprinzip, oder aber der Konkurrenzkampf tobt derart unerbittlich, dass sie bei Strafe ihres Untergangs die Ware zu Schleuderpreisen feilbieten müssen. Spargelcremesuppe und krustiger Schweinebraten erwecken nicht den Eindruck von Gammelfleisch oder –spargel.
Mit vollem Magen schlendere ich durch Maria Raisenmarkt (371m), das Dorf mit dem wunderlichen Namen, ehe der Weg einen rasanten Aufschwung nimmt. Vorbei an herrlichen Kletterfelsen mit tadellos gebohrten Haken und riesigen Höhlen gelange ich zum mächtig-klobigen Peilsteinhaus auf dem Gipfelplateau des Peilsteins (716m), mit ebenso mächtig – bärtigem Wirt. Von Statur und Auftreten her erinnert er an Heidis Almöhi. Ich ahnte schon, welch Déjà-Vu mich ereilen würde. Wegen des morgigen Ruhetags sei heute leider keine Übernachtung möglich, am besten steige ich ab ins Tal, es sei ja nicht so weit. Niemals! Um keinen Verdacht zu wecken, tue ich so als ob. Die Erfahrung lehrt, dass österreichische Hüttenwirte alles andere als begeistert sind, sollte jemand die Frechheit besitzen, draußen, in der Nähe ihres Reiches, zu nächtigen. Man könnte ja für Unordnung sorgen, Müll hinterlassen, oder gar frisch gepflanzte Blumenrabatte achtlos zertreten. Brav marschiere ich los, stoppe jedoch nach 100 Höhenmetern vor der ebenfalls geschlossenen Peilsteinhütte (620m). Ein optimaler Biwakplatz sieht anders aus, doch 21 Kilometer sind genug, ich kann und mag nicht mehr. Was mache ich nur, wenn es regnet? Auf den stark bewölkten Himmel ist kein Verlass, es bedarf eines Notfallplans. Ich sondiere die ordentlich verschlossenen Lauben ringsum, in Gefahr und größter Not flüchte ich mich unter eines ihrer Vordächer.

Erkenntnis des Tages: Eine Überdosis Katholizismus schlägt mir aufs Gemüt.

Exakte Routenführung: Unterstand in der Nähe des Höllensteinhauses (550m) – Sittendorf (370m) – Heiligenkreuz (312m) – Maria Raisenmarkt (371m) – Peilstein (716m) – Peilsteinhütte (620m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 665m; Abstieg: 600m
Distanz: 21 km
Reale Gehzeit: 6 Std

Stift Heiligenkreuz (312m)

3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)

3. Tag: Dienstag, 11.5.04: Draußen neben Peilsteinhütte (620m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)

Nachts fegte ein stürmischer Wind über mich hinweg, ich kramte die Fleecemütze hervor und zog sie auf. Meinen Minus 15 Grad North Face- Daunenschlafsack brachte er nicht in Verlegenheit. Summa summarum war mir der Wettergott gewogen: Zwar ließ mitten in der Nacht spärlich herab tropfender Regen die Alarmglocken schrillen, doch die Flucht unters Vordach blieb mir erspart.
Frühmorgens steige ich nach Altenmarkt an der Triesting (410m) ab und halte an der Landarztpraxis Dr. I. inne. Soll ich wirklich eintreten und die sterile Praxisluft mit herbem Duft anreichern? Seit drei Tagen habe ich weder einen Waschraum von innen gesehen noch meine Kleidung gewechselt. Andererseits würde mir eine Dosis Encepur 0,5 ml sehr gut tun, denn Zecken gibt es genug hier, und eine Hirnhautentzündung ist das letzte, was ich gebrauchen kann. Ich trete ein, trage mein Anliegen vor und nehme Platz. Mein Rucksack erregt Aufsehen, das überdimensionierte Teil lehnt gut sichtbar für alle an der Wand. Ich verschanze mich hinter einer Zeitung und beobachte den Betrieb. Neben mir warten drei Männer mit schwarzer Hautfarbe, einem von ihnen geht es besonders schlecht. Die Arzthelferinnen führen mehrere Telefonate und verkünden, dass nach Rücksprache mit den zuständigen Behörden die Behandlung verweigert werden müsse. Für „Asylanten“ werde so etwas nicht finanziert. In mir schäumt die Wut. Anstatt zu intervenieren, verharre ich in feiger Beobachterpose. Der junge Herr Landarzt scheint ganz gut zu leben in dieser Idylle, über mangelnde Kundschaft kann er sich nicht beklagen. Wieso drückt er kein Auge zu und gewährt einem kranken Menschen Hilfe? Würden ihm dann morgen sämtliche „Asylanten“ Österreichs die Bude einrennen? Bloß kein Exempel statuieren! Bald bin ich an der Reihe, ich bekomme eine Spritze verpasst, zahle in bar und schreite von dannen.
Anschwellender Regen zwingt mich eine endlos lange halbe Stunde in ein Bushäuschen, wie ein Raubtier im Käfig mustere ich die unaufhörlich trommelnden Tropfen. Es fisselt immer noch, als ich zum Hocheck-Schutzhaus (1037m) hinauf flaniere. Kurz vor der Hütte überschreite ich mit triumphaler Geste, in feuchte Nebelschwaden gehüllt, zum ersten Mal die 1000m-Marke. Meine heroische Tat belohne ich mit dampfender Leberknödelsuppe und leckerem Topfkuchen.
Trotz schweren Magens genieße ich die vierstündige Kammwanderung zur Enzianhütte (1107m) in vollen Zügen. Ich wusste es: Mit sicherem Gespür für meine Zeitplanung legten die Wirtsleute ihren zweifellos wohlverdienten Ruhetag auf den Dienstag. Nicht schon wieder draußen pennen! Halt, zu früh gestöhnt, das Kieneck ist von anderem Kaliber als Höllen- oder Peilstein, hier werden Menschen in Not nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern ins „Notlager“ gesteckt. Meiner „Flüssigkeitsnot“ – ich habe Durst – tut dies keinen Abbruch. Wo soll sie auch her kommen, hier oben auf dem Gipfel? Dabei hatte ich vor Abmarsch wie immer akribisch geprüft, wo Wasserquellen, Bäche oder Flüsse anzuzapfen sind, und in schwierigen Rechenoperationen die mitzuführende Wassermenge mathematisch genau kalkuliert. Irgendwo hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, für die nächsten zwölf Stunden bleibt mir exakt ein halber Liter. Da erblicken meine halluzinierenden Augen ein blaues Wasserfass. Eine Fata Morgana? Nicht ganz, nur eklige, übel riechende, mit Laub und Ästen gewürzte Brühe. Bevor der Würgreiz einsetzt, ziehe ich mich in mein drei Quadratmeter kleines Kämmerlein zurück und danke Gott, dass er mich zumindest auf einer weichen Stinkematratze nächtigen lässt.

Erkenntnis des Tages: Auch in der österreichischen Provinz werden Asylsuchende unmenschlich behandelt.

Exakte Routenführung: Peilsteinhütte (620m) – Altenmarkt/ Triesting (410m) – Hocheck (1037m) – Enzianhütte/Kieneck (1107m)
Höhenunterschied: Aufstieg: 985m; Abstieg: 585m
Distanz: 25 km
Reale Gehzeit: 7 Std

Scheunen-Notlager neben der Enzianhütte (1107m)
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In fünf Monaten von Wien bis ans Mittelmeer

Eine kleine Wanderung


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